Mit Spannung erwarteten Simon und seine Familie vor einem Jahr noch die Ankunft von Assistenzhündin Nikita. Sie sollte seine zuverlässige Begleiterin werden, die ihn vor seinen epileptischen Anfällen warnen und ihm so zu mehr Selbstständigkeit verhelfen sollte. Ein erstes Kennenlernen und die Probezeit bei Simon Zuhause stimmten zuverlässig, sodass die Großpudeldame im April 2023 bei ihm und seinen Eltern einzog.
Zuvor war sie bei einer Trainerin zwei Jahre lang intensiv zur Epilepsiewarnhündin ausgebildet worden. Gemeinsam mit Simon legte sie dann ihre Prüfung zur Assistenzhündin und zur sogenannten Mensch-Assistenzhund-Gemeinschaft erfolgreich ab. Doch dann kam alles anders als geplant.
Simons besondere Form der Epilepsie ist dauerhaft aktiv und die feinfühlige Hündin zeigte diese auch durchgehend an - Dauerstress für die Hündin und für Simon absolut nicht zielführend. Die einzig logische Entscheidung zum Wohle aller war daher Nikita wieder in die Obhut der Trainerin zu geben. „Ich musste da nach Fakten entscheiden“, sagt Simon. „Es war einfach das Sinnvollste für alle Beteiligten.“ Der Kaufvertrag wurde rückabgewickelt. Die Hündin kam zu einer neuen Assistenznehmerin, bei der sie deutlich ruhiger ist und zuverlässig vor Anfällen warnt. Wie sollte es jetzt aber für Simon weitergehen? Mit seiner besonderen Epilepsie hatte auch Trainerin Sylvia Gerdes zuvor noch keine Erfahrung. Trotzdem fand sie die Lösung in Rüde Moritz, wie Nikita ein Königspudel, der sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls bei ihr in seiner Grundausbildung zum Assistenzhund befand. Während Nikita als Warnhündin dazu ausgebildet wurde, Simon vor einem Anfall zu warnen, sodass er selbst rechtzeitig seinen Notfallknopf hätte drücken können, entschied Sylvia Gerdes Moritz als Anzeigehund darauf zu spezialisieren, Simons Anfälle zu erkennen und selber den Notfallknopf mit der Pfote betätigen zu können. Auch charakterlich schien er viel ruhiger und ausgeglichener als seine Kollegin – perfekt für Simon, sodass seinem Einzug bei dem 20-jährigen und seiner Familie im April 2024 nichts mehr im Weg stand.
Wie zuvor schon mit Nikita musste Simon nun auch mit Moritz gemeinsam die Prüfung zur sogenannten Mensch-Assistenzhund-Gemeinschaft ablegen. Die Prüfungsfelder sind immer die gleichen, jedoch anders gestaltet. Insbesondere die fünf vorab mit der Trainerin festgelegten Assistenzleistungen sind individuell auf Moritz und Simon zugeschnitten und werden besonders geprüft. Aufgeregt war Simon nicht: „Mir war bewusst, dass wir das schaffen werden, deshalb bin ich mit Ruhe in die Prüfung gegangen.“
Die Hauptassistenzleistung von Moritz ist es einen Knopf zu betätigen. In den Räumen, in denen sich Simon regelmäßig aufhält, sind Knöpfe für den Hausnotruf platziert. Wenn dieser betätigt wird, wird eine Verbindung zur Notrufzentrale der Johanniter hergestellt. Bei versehentlicher Betätigung des Knopfes kann dieser so entsprechend rückmelden, dass alles in Ordnung ist. Reagiert er aufgrund eines Anfalls nicht, verständigt die Zentrale den Rettungsdienst und gibt seine Patienteninformationen an das Einsatzpersonal weiter. So ist rund um die Uhr Hilfe gewährleistet, das Hausnotrufsystem wurde sogar ärztlich verordnet. Das Problem: Wer drückt den Knopf, wenn Simon einen epileptischen Anfall hat und selber nicht mehr dazu in der Lage ist? Hier kommt Moritz mit seiner Beziehung zu Simon ins Spiel. Wenn Simon seine typischen Anfallgeräusche macht, weiß der Hund, was zu tun ist: Zunächst versucht er eine Rückmeldung von Simon zu bekommen, bekommt er keine sucht er nach dem Knopf und löst den Notruf aus. Erst wenn es Simon besser geht, kommt auch Hund Moritz wieder zur Ruhe.
Wie auch Sitz und Platz muss das Kommando regelmäßig trainiert werden. Manchmal ist Simon zu Beginn eines Anfalls noch in der Lage, das Signalwort „Buzzer“ zu sagen, manchmal geht aber auch alles so schnell, dass Moritz nur aufgrund der Anfallgeräusche erkennen muss, dass er den Knopf drücken muss. Im Training imitiert Simon diese Geräusche deshalb so gut wie möglich – auch nach bestandener Prüfung üben die beiden täglich.
Moritz trägt eine Weste, die ihn als Assistenzhund kennzeichnet, wie es in der seit dem 1. März 2023 geltenden Assistenzhundeverordnung festgelegt ist und welche auch die Anforderungen an die Eignung, Ausbildung, Prüfung und Haltung von Assistenzhunden festsetzt. Die Prüfungsbescheinigung musste Simon außerdem bei der entsprechenden Landesanerkennungsstelle einreichen, dort bekommt man einen Lichtbildausweis über die Mensch-Assistenzhund- Gemeinschaft, der bei Verlangen vorgezeigt werden muss. Den hat er allerdings noch nicht erhalten. Die Anerkennung wird befristet ausgestellt und bleibt gültig, bis der Assistenzhund das zehnte Lebensjahr vollendet hat. Danach kann sie noch zweimal für je ein Jahr verlängert werden.
In die meisten Geschäfte kommt Moritz ohne Probleme mit rein, was er rein rechtlich ja auch darf, selten spricht Simon mal jemand auf ihn an. In der Regel sind es eher andere Kundinnen oder Kunden, die etwas sagen, berichtet Simon. „Je nachdem wie ich angesprochen werde antworte ich auch. Da meine Erkrankung nicht sichtbar ist, wollen häufig Menschen wissen, warum ich den Hund habe und was er kann. Das ist übergriffig.“ Auch bei Simons Nebenjob als Museumsaufseher kommen trotz der Kenndecke immer wieder Menschen auf Moritz zu, wollen ihn anfassen und lenken ihn ab, erzählt er. In der Gesellschaft ist dahingehend noch viel Aufklärung nötig.
Dank der AHundV gibt es mittlerweile zwar rechtlich festgelegte Qualitätsstandards, Assistenzhunde sind im Gegensatz zu Blindenführhunden aber trotzdem nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen. Deshalb weigert sich die Krankenkasse auch weiterhin, die nicht unerheblichen Anschaffungskosten von 40.000 Euro für Moritz zu übernehmen. Die Begründung: Ein Assistenzhund gleiche keine beeinträchtigte Körperfunktion aus und stelle somit keinen Behinderungsausgleich dar. Seit Anfang 2023 befindet sich die Rechtsabteilung des BDH deshalb im Widerspruchsverfahren, denn Moritz kann durchaus die ständige lebensnotwendige menschliche Begleitung von Simon ersetzen.
Simons Ziel ist es, selbstständig und unabhängig von menschlicher Assistenz sein Leben zu gestalten. Bald wird er als erste Privatperson in Deutschland einen mobilen Notrufknopf testen, der auf einem Schuh befestigt und mit einer Smartwatch verbunden ist. Denn auch unterwegs kann er einen Anfall haben und Moritz kann nicht helfen, wenn in Reichweite kein Knopf für ihn zum Drücken ist. Beim Auslösen wird direkt auch Simons Standort mitgeschickt und nicht nur die Sanitäter, sondern auch seine Eltern können benachrichtigt werden. Moritz würde dann im Fall der Fälle natürlich im Rettungswagen mitfahren. Eine vergleichbare Mensch-Assistenzhund- Gemeinschaft gibt es bisher noch nicht in Deutschland. So könnte Moritz Simon überallhin begleiten, ihm im Notfall helfen und zu mehr Selbstständigkeit verhelfen. Nur im Fußballstadion bräuchte Simon dann noch eine menschliche Assistenz. Dort ist es einfach zu laut für einen Hund.
Auch zu seinem zukünftigen Job würde Moritz Simon natürlich begleiten. Bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz ist Simon aktuell aber noch mit ganz anderen Schwierigkeiten konfrontiert. Am liebsten würde er beim Zoll arbeiten, ihm liegt alles, was mit Recht und klaren Regeln zu tun hat. Aufgrund seiner Erkrankung kommt allerdings nur eine Verwaltungstätigkeit infrage und dort sind die Ausbildungsplätze limitiert. Deshalb macht er aktuell verschiedene Praktika, um auch in andere Bereiche reinzuschnuppern. „Als junger Mensch mit Behinderung ist es schwer an eine Ausbildungsstelle zu kommen.
In der Regel sind Arbeitgeber zu wenig informiert über Nachteilsausgleiche und Fördermaßnahmen, die sie für mich beantragen können. Ein Teil meiner Ausbildungsvergütung würde zum Beispiel von der Bundesagentur für Arbeit übernommen werden“, berichtet Simon. Seine Mutter ergänzt: „Für die Menschen, die zu ‚gut‘ sind für Förderschule und Behindertenwerkstatt, aber nicht ganz mithalten können mit den Gesunden, gibt es eine sehr große Lücke.“ Im Jahr 2017 lag der Anteil Auszubildender mit Schwerbehinderung bei traurigen 0,7 Prozent. Bei ihrem Start ins Berufsleben werden jungen Menschen mit Behinderungen jede Menge Steine in den Weg gelegt, die auch Moritz nicht aus dem Weg zu räumen vermag.
Sarina Ohm
BDH-Unternehmenskommunikation